vom Mittwoch, 11. November 2015
Stellungnahme des Arbeitsbereichs Elementarpädagogik des Instituts für Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz
zur Meinungsumfrage von IMAS International (2015):
„STRITTIGE THEMEN – MEHRHEITSMEINUNG VS. POLARISIERUNG“
„Zweifel an Kinderkrippen laut Studie ebenfalls "Volksmeinung"
(DER STANDARD, 16.10.2015)
Laut einer aktuellen Meinungsumfrage von IMAS International (Institut für Markt- Sozialanalysen Ges.m.b.H, 2015) haben Kleinkinder nichts in einer Kinderkrippe verloren, so berichteten unter anderem der Standard oder die Kleine Zeitung am 16. Oktober 2015. Als Arbeitsbereich Elementarpädagogik ist es uns ein Anliegen, diese Aussage als auch ihr Zustandekommen kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren.
Insbesondere die Art der Fragestellung „Kinder sollten eigentlich bis zum dritten Lebensjahr nicht in einer Kinderkrippe untergebracht werden“ muss dabei in den Blick genommen werden. So wird in der Fachliteratur ausdrücklich darauf hingewiesen, dass suggestiv formulierte Fragen, wie die genannte, zu vermeiden sind, da sie zu keinem aussagekräftigen Ergebnis führen (vgl. Porst 2014, S. 107). Dies gilt auch für die Umfrageforschung.
Jessen (2014) zeigt in ihrer publizierten Dissertation diese Problematik an einem Beispiel auf: Innerhalb einer Woche wurden von einem Institut zwei Umfragen zum selben Thema durchgeführt. Eine Umfrage wurde dabei bewusst suggestiv formuliert. Die Ergebnisse der beiden vermeintlich gleichen Umfragen weisen eine Diskrepanz von 44% auf (vgl. Jessen 2014, S. 247).
Die Fragestellung der IMAS-Studie ist dabei in zweierlei Hinsicht suggestiv. Einerseits wird mit der Formulierung „sollten eigentlich“ darauf angespielt, dass dies bereits eine allgemein vertretene Einstellung wäre.
Solche Fragestellungen führen zu einer Verzerrung der Ergebnisse, da sich das Antwortverhalten auch an der subjektiv angenommenen sozialen Erwünschtheit orientiert. Um diesen Verzerrungseffekt zu vermeiden, müsste die Fragestellung ausgewogen formuliert werden (vgl. Jessen 2014, S. 249).
Andererseits wird mit „untergebracht“ suggeriert, dass Kinderkrippen Orte wären, an denen Kinder aufbewahrt oder abgestellt werden. Dass Kinderkrippen aber keine „Aufbewahrungsorte“ sondern vielmehr Bildungsorte sind, an denen sich Mädchen und Buben in komplexen Austauschprozessen die Welt aneignen, wird mit der formulierten Fragestellung nicht zum Ausdruck gebracht. „Untergebracht“ ist demnach nicht nur aufgrund der Formulierung irreführend, sondern impliziert sprachlich in keinster Weise den (auch gesetzlich verankerten) Bildungsauftrag von Kinderkrippen.
Über die Bedeutsamkeit von Kinderkrippen als Bildungsorte, an denen die „Lernprozesse des Kindes, sein selbstbestimmtes Handeln, seine Teilnahme an gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen sowie die Übernahme von Verantwortung (…) in eine individuelle Selbst- und Weltdeutung“ (Charlotte Bühler Institut 2009, S. 5) münden, sind sich nicht nur die Ämter der österreichischen Landesregierungen, sondern auch aktuelle Wissenschaft und Forschung einig (vgl. Becker-Textor 2009, o.S., Schneider 2008, S. 1).
Dennoch wird in der öffentlichen Diskussion die Kinderkrippe kaum als Ort der Bildung thematisiert. Nach dem Verständnis, dass Bildung bereits ab der Geburt beginnt, muss die Elementarpädagogik als eigenständiger Bildungsbereich mit speziellen Aufgabenstellungen, eigenen Institutionen und einer eigenen Professionalisierung verstanden werden, und nicht beispielsweise als Vorbereitung auf die Schule (vgl. Schäfer 2002, S. 1) oder als Einrichtungen zur Aufbewahrung.
Die Kinderkrippe verlangt nach einer eigenen Pädagogik, in der das Besondere dieser Altersgruppe Beachtung findet und die Bildungsprozesse der Mädchen und Buben bedürfnisgerecht begleitet werden (vgl. Becker-Textor 2009, o.S.). Dies bedeutet aber auch, dass es fundierter qualitativer und quantitativer Forschungen bedarf, die sich mit Fragen der Bildung, Erziehung und Betreuung, der qualitativ hochwertigen pädagogischen Begleitung von Mädchen und Buben, deren Rahmungen und Wirkungen in Österreich auseinandersetzen.
Meinungsumfragen können dabei durchaus Anstoß zu einer breiten – auch öffentlichen – Diskussion geben, allerdings nur, wenn die Qualitätskriterien wissenschaftlicher Forschung eingehalten werden und eine ausgewogene Fragestellung gegeben ist, die nicht bereits eine erwünschte Antwort suggeriert.
Mag.a Claudia Geißler
Bakk.a Christina Gimplinger, MA.
Bakk.a Franziska Leissenberger, MA.
Bakk.a Lea Mittischek, MA.
Mag.a Christina Pernsteiner
Karl-Franzens-Universität Graz
Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft
Arbeitsbereich Elementarpädagogik
Strassoldogasse 10/1. Stock
8010 Graz
Literatur:
· Becker-Textor, Ingeborg (2009): Die Kleinen kommen. Braucht die Kinderkrippe eine eigene Pädagogik? Kindergartenpädagogik Online Handbuch. In: http://www.kindergartenpaedagogik.de/1986.html [14.07.2013]
· Charlotte Bühler Institut (2009): Bundesländerübergreifender BildungsRahmenPlan für elementare Bildungseinrichtungen in Österreich. Wien: Ämter der Landesregierungen der österreichischen Bundesländer.
· IMAS International (2015): STRITTIGE THEMEN – MEHRHEITSMEINUNG VS. POLARISIERUNG. In: http://www.imas.at/images/imas-report/2015/17_Strittige%20Themen_Mehrheitsmeinung%20vs%20Polarisierung.pdf [21.10.2015].
· Jessen, Anne (2014): Perspektiven der politischen Meinungsforschung. Demoskopische Ergebnisse im Spannungsfeld von Theorie, Praxis und Öffentlichkeit. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Dissertation.
· Noelle-Neumann, Elisabeth/Petersen, Thomas (2005): Alle, nicht jeder. Einführung in die Methoden der Demoskopie. 4. Auflage. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag.
· Porst, Rolf (2014): Fragebogen. Ein Arbeitsbuch. 4. Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
· Schneider, Kornelia (2008): Kinderkrippen als Bildungseinrichtungen? Teile des Beitrages zum Nürnberger Krippenkongress am 10.07.2008. In: http://www.gew-bayern.de/uploads/media/Schneider_Kinderkrippen_Langfassung.pdf [21.10.2015].
· Schäfer, Gerd E. (2002): Bildung beginnt vor der Schule. Fachpolitischer Diskurs. Köln. In: http://www.plattform-educare.org/arbeiten.htm [21.10.2015].
Für Nachfragen wenden Sie sich bitte an
Mag.a Christina Pernsteiner
Karl-Franzens-Universität Graz
Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft,Arbeitsbereich Elementarpädagogik
Strassoldogasse 10/1. Stock
8010 Graz
Tel.: +43 (0)316/380 - 8039
Fax: + 43 (0)316/380 – 9710
E-Mail: christina.pernsteiner@uni-graz.at
Internet: http://erziehungs-bildungswissenschaft.uni-graz.at/
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