Die
Kita wird zur neuen Schule der Nation
Kinder verbringen im Schnitt 36,8 Stunden pro Woche mit
Erziehern. Für die Gesellschaft ist das eine Revolution wie einst die
Einführung der Schulpflicht. Langsam fällt auf: Es mangelt an Qualität.
Es mag ein Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet an dem
Tag, an dem das vorläufige Ergebnis der Schlichtung im Kita-Tarifstreit bekannt
gegeben wurde, in Berlin ein großer Kita-Kongress tagte. Einen Zusammenhang gab
es dennoch. Denn das, worüber die rund 1000 (weitgehend weiblichen)
Kongressteilnehmer an diesem regnerischen Dienstag im Neuköllner
"Estrel"-Hotel berieten, war die Karriere ihres Berufsstandes – von
der Kindergartentante der Vergangenheit zur Expertin für frühkindliche Bildung.
Der Kita-Boom wird das Aufwachsen so gründlich verändern
wie einst die Einführung der allgemeinen Schulpflicht", prognostizierte
der Erziehungswissenschaftler Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen
Jugendinstituts (DJI). "Die Kita hat von der Schule die Rolle der ersten
öffentlichen Bildungsinstitution übernommen."
Verbrachten Kinder im Westen Deutschlands noch in den
80er-Jahren durchschnittlich 12 Stunden in der Woche in der Kita, waren es 2006
bereits 31,5 Stunden und 2014 schon 36,8 Stunden – eine komplette Arbeitswoche.
Und auch die durchschnittliche Verweildauer der Kinder in der Kita ist rasant
gewachsen. Vier Jahre verbrächten die Kinder dort inzwischen im Durchschnitt
bis zum Schulbeginn, rechnete Rauschenbach vor. "Dass daraus für die Kitas
eine neue Verantwortung erwächst, ist völlig klar. Aus der kleinen, aber feinen
Zeitinsel im familiären Zeitmeer ist aus der Kita eine Ganztagsveranstaltung
für alle Kinder mit erheblicher gesellschaftlicher Relevanz geworden", so
Rauschenbach.
"Der
Kita-Streik war nur ein Ausdruck dieser offenen Fragen"
Die Institutionalisierung der Kindheit und die
Ausgestaltung der Kita als Bildungsort werde den Stellenwert der Kitas in der
Gesellschaft auch in Zukunft weiter verändern, so Rauschenbach. "Der
Kita-Streik war nur ein Ausdruck dieser offenen Fragen." Ohne die
intensiven Bildungsdebatten der vergangenen Jahre wäre ein so harter
Arbeitskampf nur schwer möglich gewesen, so der DJI-Direktor. Eingebracht hat
er jetzt durchaus substanzielle Gehaltserhöhungen für die kommunalen
Angestellten im Sozial- und Erziehungsdienst – wenn auch keine generelle
Höhergruppierung, wie von den Gewerkschaften gefordert.
Auch Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) ließ auf dem
Kongress "Mehr Qualität in Kitas" viel Sympathie für den Kampf der
Erzieher um mehr Anerkennung erkennen. Um den gestiegenen Anforderungen an
frühkindliche Bildung gerecht zu werden, brauche es Personal, das gut
ausgebildet und gut bezahlt sei, sagte die Ministerin:
"Qualitätsverbesserung bedeutet, dass wir mehr Geld in die Hand nehmen
müssen." Hier sieht sich der Bund bereits in der Pflicht. Seit 2015
übernimmt er komplett die Kosten für das BAföG in Höhe von 1,17 Milliarden Euro
jährlich – Geld, das die Länder künftig für andere Bildungszwecke ausgeben
können, auch für den Ausbau und die Qualitätsverbesserung der Kitas.
Lieber wäre Schwesig allerdings ein richtiges
"Qualitätsgesetz" gewesen, das bundesweit einheitliche Standards für
Kindertagesstätten festlegt – vom Personalschlüssel bis zum Bildungsplan. Doch
darauf hatten sich Bund und Länder bislang nicht einigen können. Stattdessen
wurde mit der Kita-Konferenz im November 2014 der Grundstein für eine
Qualitätsoffensive gelegt. In einem gemeinsam von Schwesig und der Vorsitzenden
der Jugend- und Familienministerkonferenz, Irene Alt, unterzeichneten
Communiqué einigten sich Bund und Länder dabei erstmals auf einen verbindlichen
Fahrplan zur Erarbeitung gemeinsamer Qualitätsziele.
400
Millionen Euro für 4000 "Sprach-Kitas"
Zudem will der Bund den Ländern ab dem 1. Januar 2016 mit
zwei neuen Programmen unter die Arme greifen, einem Förderprogramm
"Sprach-Kitas" und dem Programm "Kita Plus" zum Ausbau der
Randstundenbetreuung. Mit 400 Millionen Euro fördert der Bund rund 4000
"Sprach-Kitas", die von vielen Kindern mit Sprachdefiziten besucht
werden – Migrantenkindern etwa oder Kindern aus bildungsfernen Familien. Schon
in den vergangenen vier Jahren waren diese Schwerpunkt-Kitas mit dem
Vorgängerprogramm "Schwerpunkt-Kitas Sprache und Integration"
unterstützt worden – mit überwältigendem Erfolg, wie die begleitende Evaluation
ergab. Die durch das Programm bezahlten Sprachexpertinnen hätten bereits gute
Rahmenbedingungen geschaffen, sagte Schwesig. "Hier hat sich gezeigt, was
bereits eine halbe Fachkraft zusätzlich bewirken kann."
Untersuchungen hätten gezeigt, dass ein dreijähriges Kind
mit vielen Sprachimpulsen einen gut doppelt so großen Wortschatz hat wie ein
gleichaltriges Kind, das ohne eine solche Förderung auskommen muss, sagte
Schwesig. "Und wer gut sprechen kann, wird auch besser wahrgenommen und
gefördert. Die Weichen werden früh gestellt." Schon bei der Einschulung
seien die Bildungsunterschiede dann oft so groß, dass die Kinder hoffnungslos
im Hintertreffen seien. "Sprache darf aber kein Privileg sein. Gute
Sprache von Anfang an ist ein machtvolles Qualitätsmerkmal."
Schon das bestehende Bundesprogramm habe hier einen
spürbaren Impuls gesetzt, so die Bilanz der Bundesministerin. "Und die
Bundesländer haben die Idee in ihren Bildungsplänen und mit eigenen Programmen
aufgegriffen. Das ist ein toller Erfolg."
Könnten sich Bund und Länder dereinst auf das von ihr
gewünschte Qualitätsgesetz einigen, könne man die Finanzströme auch verstetigen
statt immer neue Förderprogramme aufzulegen, sagte Schwesig. Doch noch sind die
Ausgangsvoraussetzungen in den Ländern viel zu verschieden. Viele Kommunen
hatten zunächst einmal genug damit zu tun, überhaupt so viele Betreuungsplätze
zu schaffen, um den einklagbaren Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz
befriedigen zu können. Für die damit einhergehende Qualitätsdebatte fehlte da
wohl schlicht die Luft.
Unterstützend greift der Bund daher auch bei einem weiteren
Knackpunkt bei der Kita-Betreuung ein, beim Angebot von Kitas mit besonderen
Öffnungszeiten. Das Bundeskabinett hatte bereits im März beschlossen, ab dem
kommenden Jahr 100 Millionen Euro für Kitas bereitzustellen, die auch zu
ungewöhnlichen Zeiten Betreuung anbieten, etwa abends und nachts – sogenannte
24-Stunden-Kitas. "Für Menschen, die im Schichtdienst arbeiten – im
Krankenhaus oder in der Pflege, als Polizisten oder im Einzelhandel – ist es wichtig,
dass es auch in sogenannten Randzeiten eine Möglichkeit gibt, die Kinder gut
betreut zu wissen", sagte Schwesig der "Welt".
Doch natürlich habe auch alles seine Grenzen: "Es darf
nicht verlangt werden, dass wir nur noch Rund-um-die-Uhr-Kitas anbieten, damit
die Leute 24 Stunden pro Tag dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Die
Arbeitswelt kann nicht erwarten, dass die Familien immer flexibler werden. Es
muss umgekehrt sein." Den Dauerparkplatz für Kinder, so viel ist klar,
wird es bei aller Kita-Euphorie auch in Zukunft nicht geben. Und das ist auch
gut so.
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